Document (#23948)

Author
Karisch, K.-H.
Title
¬Die Biochemie Gottes : Bereits in der menschlichen Gehirnstruktur ist die Fähigkeit zum spirituellen Erleben angelegt - Auch Roboter können religiös sein
Source
Frankfurter Rundschau. Nr.134 vom 12.6.2001, S.21
Year
2001
Content
"Pyramiden, Tempel, Kathedralen seitdem der Mensch seinen Marsch aus grauer Vorzeit in die bekannte Geschichte antrat, errichtete er seinen Göttern Heiligtümer. Der Mensch der Steinzeit verfügte über Handwerkszeuge, das Feuer, die Jagd und kulturelle Umgangsformen. Das Erstaunlichste und den Menschen am weitesten vom Tier Unterscheidende ist jedoch seine bereits in frühen Felsbildern aufscheinende Fähigkeit zur Abstraktion, zur Kunst, zu magischen und mystischen Empfindungen. Schätzungen zufolge hat die Menschheit bislang rund 100 000 verschiedene Religionen hervorgebracht. "Im fundamentalen Begriff der Symbolisierung", so schreibt die US-Philosophin Susanne K Langer, gleichviel ob mystischer, praktischer oder mathematischer Art - liegt der Schlüssel zu aller menschlicher Existenz." Eine der gewaltigsten Erfindungen des menschlichen Gehirns ist dabei der Glauben an ein höheres Wesen. Langer nennt es die Geburtsstunde aller menschlichen Entwicklung, die offensichtlich biologischen Bedürfnissen entspringed müsse: "Die Eroberung der Welt durch den Menschen beruht zweifellos auf der überlegenen Entwicklung seines Gehirns."!Und dieses Bedürfnis nach dem Spirituellen, des Glaubens als Symbolbildung durchdringt wie Essen, Trinken oder Sexualität die gesamte menschliche Bedürfnisstruktur mit einer für Susanne K. Langer "geradezu unheimlichen Kraft". Diese Kraft hat ihren Sitz im Gehirn, von dessen feiner Struktur die Wissenschaft bis heute gerade erste Vorahnungen entwickelt, immer wieder aufs Neue überwältigt von der gewaltigen Leitungsfähigkeit und Komplexität unseres Denkorgans. Doch wo sitzt die Seele - und erlaubt die Wissenschaft überhaupt eine? Das sind Fragen, die bislang vornehmlich von Theologen und Philosophen diskutiert wurden und die nun auch die Naturwissenschaften erreichen, genauer gesagt, die Gehirnforscher. Warum Gott die Menschen auch im Zeitalter von Quanten-Computer und Genforschung nicht verlassen wird, das haben die Neuropsychologen Andrew Newberg und sein vor kurzem verstorbener Kollege Eugene d'Aquili seit zehn Jahren an der Universität Philadelphia erforscht. Bei Gebet und Meditation von Buddhisten und Franziskaner-Nonnen zeichneten die Wissenschaftler mit einer Spect-Kamera (Single Photonen Emissions Computer Tomographie) die Hirnaktivitäten auf Dabei entdeckten sie, dass im Moment des Transzendierens - auch kosmisches Bewusstsein genannt - eine kleine Region im hinteren Teil des Neokortex ihre Aktivitäten einstellt.
"Wir können natürlich nicht behaupten, dass wir in den Aktivitätsmustern des Gehirns Gott erblicken", sagt Newberg. Wenn allerdings jemand religiöse Erlebnisse hat, dann ist es das, was ihm geschieht. "Was aber geschieht da in den grauen Zellen" genau? In ihrem neuen Buch 'Why God Won't Go Away' beschreiben D'Aquili und Newberg, dass dieser Gehirnteil die Lage des Menschen im Raum berechnet. Fällt diese Orientierung durch Beten oder Meditieren weg, dann verschwimmen die Grenzen zwischen dem Selbst des Menschen und seiner Umwelt, es entsteht das Gefühl des Einsseins" mit Gott oder dem Universum. Mit anderen Worten", erläutert Radiologie-Professor Newberg, "mystische Erfahrungen sind biologischer Natur, sie sind beobachtbar und wissenschaftlich real." Frühere Arbeiten der beiden Forscher hatten ergeben, dass auch die mit anderen Gehirnteilen intensiv kommunizierende Amygdala-Region (Mandelkern) - sie wird als Zentrale der Emotionen angesehen - mit religösen Ritualen eng verknüpft ist. Je nachdem, so Newberg, ob sie rasch sind wie bei Sufi-Tänzen oder langsam beim Meditieren, würden verschiedene Teile des Gehirns aktiviert und der Geist auf eine höhere Stufe des Bewusstseins gebracht. Ist also aller Mystizismus und Gottesglaube nur ein Flimmern neuronaler Ereignisse? Gläubige müssen das nicht so sehen, denn, so fragt die Zeitschrift Psychologie heute im Juni-Heft: Wer war der Elektriker, der diese Schaltkreise gelegt hat?" Und diese Schaltkreise« sind in der Tat beeindruckend. Nach derzeitigem Wissensstand enthält das Gehirn mindestens 100 Milliarden Nervenzellen. Jede Zelle kommuniziert über mehr als 1000 Synapsen mit anderen Nervenzellen. Das so entstehende dreidimensionale Netzwerk aus 100 Billionen Schaltstellen ist von unvorstellbarer Komplexität - und offenbar noch weiter ausbaufähig. Die Evolution könnte die Nervenzellen in Teilen der Gehirnrinde künftig durchaus noch sehr viel dichter parken, meinen Wissenschaftler. Moderne bildgebende Verfahren geben die beim Denken ablaufenden Prozesse bislang nur grob wider. Immerhin, die Vorstellung vom Gehirn als simplem biologischen Computer ist widerlegt. Anders als bei elektronischen Rechenmaschinen, so der Frankfurter Gehirnforscher Wolf Singer, sind beim menschlichen Nervensystem der Aufbau des "Rechners" (Hardware) und das Programm (Software) eins: Die ,Architektur der Verschaltung von Nervenzellen ist das Programm, welches das Funktionieren des Nervensystems festlegt."
So verfügt das Gehirn zum Zeitpunkt der Geburt zwar schon über einen vollen Satz an Nervenzellen, aber die Verschaltung, das Auswachsen von Nervenverbindungen und neue synaptische Kontakte, bildet sich je nach Sinneseindrücken und Lernen bis in die Pubertät immer differenzierter aus. Erfahrung kam tatsächlich zu so massiven strukturellen Veränderungen führen", sagt Singer, dass man sie im Mikroskop sehen kann." Noch sind es nicht mehr als verschiedene Hypothesen, mit denen die Forscher das in Jahrmillionen der Evolution sich entfaltete Wunder des menschlichen Gehirns beschreiben können. Dennoch ist absehbar, dass das immer bessere Verständnis der Sprache" der Nervenzellen dazu führen wird, dass die Leistungen des Gehirns elektronisch erweitert werden. Bereits heute gibt es Implantate, mit denen Gehörlose wieder hören können; an Schüttellähmung Erkrankte tragen feine Elektroden im Gehirn, die ihnen kontrollierte Bewegungen ermöglichen. Weit gediehen sind die Forschungen, Erblindete mit einer künstlichen Retina in die Welt des Lichte zurückzuholen. Die Kopplung zwischen Gehirnzellen und Mikrochips zum Austausch von Informationen ist im Labor bereits seit vielen Jahren gelungen. Schon bald wird man Gehirnaktivitäten ableiten können, um beispielsweise Prothesen zu steuern. Der Mensch greift - nachdem er bereits seit Jahrtausenden mit bewusstseinsveränderten Drogen experimentiert hat - nun auch elektronisch in jenen geheimnisvollen Bereich von Verstand, Geist und Seele ein. Zugleich wird der umgekehrte Weg beschritten, werden Computer konstruiert, die Emotionen empfinden sollen. Künstliche neuronale Netzwerke, die der Architektur" des Gehirns folgen, sind tatsächlich lernfähig. Solche Entwicklungen - bis zu Ende gedacht - dürften viele Menschen erschrecken. Denn falls eines Tages Roboter und Androiden mit menschlichem Verhalten geschaffen werden könnten, wären sie tatsächlich dem Menschen ähnlich? Gäbe es dann Kreative, Musiker, Dichter und Maler - aber auch Mörder, Sadisten, Krieger aus der Chipfabrik?
Bereits heute wird in der Forscherszene ernsthaft diskutiert, welche freiwilligen Grenzen man sich auferlegen sollte, nach ein der amerikanische Computerexperte Bill Joy vor den Risiken von außer Kontrolle geratenen Robotern warnte, die zur gewaltigen Bedrohung für die Menschheit geraten könnten. Noch haben die leistungsfähigsten Computer gerade mal die Intelligenz von Insekten erreicht, aber das wird sich rascher ändern, als viele glauben. Nicht in fünf, aber möglicherweise in 20 bis 30 Jahren. Denn dann werden, falls sich die Leistungssteigerungen im Computerbau mit der bisherigen Geschwindigkeit fortsetzen, die Chips die Leistungsfähigkeit des menschlichen Gehirns erreichen. In der Kombination von Computermit Nanotechnologie und Gentechnik sieht Joy die "Büchse der Pandora" weit geöffnet. Im Mix aus Gehirnimplantaten, auf Festplatten gespeicherten Gehirninhalten, Biocomputern und Robotern, die zu Gott beten - schon Stanislaw Lem hat in seinen Sterntagebüchern den religiösen Androiden eine eigene Theologie verpasst -, verlöre der Mensch schließlich seine zentrale Stellung als Krone der Schöpfung. Er verlagerte die Evolution aus sich heraus in eine von ihm angestoßene Technikwelt, die sich schließlich vollständig von ihm abkoppeln, ihre Entwicklung eigenständig vorantreiben - und ihren einstigen Konstrukteur möglicherweise bekämpfen würde. Doch die Zeithorizonte für die Visionen sind teilweise so großzügig gewählt, dass wohl keiner der neuen Apokalyptiker sie noch erleben wird. Und da Zukunft noch stets anders verlaufen ist, als ihre Propheten glaubten, kann man vermutlich mit Max-Planck-Präsident Hubert Markl getrost sein.
Er sieht in den Auf- und Erregungen vor allem ein Medienspektakel, das viele Menschen dazu gebracht habe, sich mit diesen durchaus wichtigen Fragen zu beschäftigen, Die rapiden Fortschritte der Technologien bringe Machtzuwächse an technischer Verfügungsmöglichkeiten mit sich, sagt er. Dies aber bedinge mehr Verantwortung und auch Zuwachs an Kontrolle, "wenn der menschliche Zauberlehrling nicht die Herrschaft über seine dienstbaren Geister verlieren soll". Vielleicht ja glühen auch die Lichter der Aufklärung in den Naturwissenschaften wieder stärker auf und ziehen die Grenzen zur Metaphysik schärfer. Wer weiß. Albert Einstein zumindest nannte den ernsthaften Forscher einen tief religiösen Menschen: Seine Religiosität liegt im verzückten Staunen über die Harmonie der Naturgesetzlichkeit, in der sich eine so überlegene Vernunft offenbart, dass alles Sinnvolle menschlichen Denkens und Anordnens dagegen ein gänzlich nichtiger Abglanz ist." Dieser tiefe Glaube an die Vernunft des Weltenbaus habe Kepler und Newton die Kraft vieler Jahre einsamer Arbeit verliehen, den Mechanismus der Himmelsmechanik zu entwirren. Am Ende des 18. Jahrhunderts noch hatte die intellektuelle Elite geglaubt, angesichts der atemberaubenden wissenschaftlichen Entdeckungen würden die Religionen bald ganz verschwinden. Heute, 200 Jahre später, ist davon keine Rede mehr. Der neue Supermarkt der Patchwork-Religionen, wo sich jeder von der indianischen Schwitzhütte übers Feuerlaufen bis hin zu magischen Steinen bedienen kann, ist unübersehbar. Zwar sinkt die Attraktivität der Kirchen in Industrieländern wie Deutschland; dennoch hat der Glaube noch Strahlkraft und zieht Zehntausende von Menschen zum Kirchentag nach Frankfurt. Für Gehirnforscher Newberg ist das nicht verwunderlich: Solange unser Gehirn so verschaltet ist, wie es ist, bleibt Gott ein Thema für die Menschen."
Field
Kognitionswissenschaft

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  4. Shala, E.: ¬Die Autonomie des Menschen und der Maschine : gegenwärtige Definitionen von Autonomie zwischen philosophischem Hintergrund und technologischer Umsetzbarkeit (2014) 0.27
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  5. Hörmann, H.: Meinen und Verstehen : Grundzüge einer psychologischen Semantik (1978) 0.24
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