Document (#25314)

Author
Albrecht, C.
Title
¬Ein Barbar in Bielefeld : Es hallt ein Ruf wie Donnerhall: Schließt die Biblitheken
Source
Frankfurter Allgemeine Zeitung. Nr.36 vom 12.2.2002, S.45
Year
2002
Content
"Als der Kalif Omar gefragt wurde, was mit der Bibliothek von Alexandria geschehen solle, gab er eine weise Antwort: Wenn die Schriften mit dem Koran übereinstimmen, verbrennt sie, denn sie sind unnütz. Wenn sie nicht mit dem Koran übereinstimmen, verbrennt sie ebenfalls, denn sie sind schädlich. Das klingt nur deshalb barbarisch, weil der Koran für uns bedeutungslos ist. Setzt man jedoch für den Kalifen Omar den Bibliothekar Karl Wilhelm Neubauer und für den Koran das Internet, elektronische Bücher und Zeitschriften sowie das Drucken auf Abruf oder andere digitale Techniken ein, die zum Teil noch zu entwickeln sind, dann erkennt man die Weisheit einer heiligen Zerstörungswut, die aufhebt, was sie vernichtet. Rousseau und Nietzsche zitieren den barbarischen Kalifen als Beispiel für die Vitalität junger, unverbildeter, eroberungssüchtiger Kulturen. Karl Wilhehn Neubauer ist der scheidende Direktor der Universitätsbibliothek Bielefeld, die als modernste Bibliothek Deutschlands gilt. Neubauer ist 62 Jahre alt, wirkt aber, als hätte vor zwanzig Jahren jemand das Alterungsgen bei ihm abgeschaltet. So verkörpert er die Vitalität der jungen, aber machthungrigen digitalen Zivilisation. Er ist der klassische Nestbeschmutzer. Viele Berufskollegen hassen ihn. Aber das Publikum vergöttert Nestbeschmutzer: Denn Nestbeschmutzer suchen die Schuld nicht bei den anderen, sondern bei sich selbst. So sind sie die Umstürzler, Antreiber, Macher. Wenn das Thema Bibliotheken nicht so verstaubt klänge, wäre Neubauer der Liebling der Medien. Hier liegt eines der Probleme: Kommunikation. Die Bibliothekare, gewohnt, seit Omars Zeiten und früher immer schon dagewesen zu sein, sagen uns nicht, was sie eigentlich machen und wozu wir sie künftig noch brauchen. Wir fragen sie aber auch zuwenig. Zwar wollen wir eine sogenannte "Wissensgesellschaft" sein, und wir haben gelernt, daß wir den stetigen Bevölkerungsrückgang nur durch Produktivitätssteigerung aufwiegen können, also durch Bildung und Forschung. Aber das hat keine ernsthaften Konsequenzen. Wie also Aufmerksamkeit erregen für ein Thema, das die Gesellschaft interessieren müßte? Beispielsweise durch eine Konferenz zum Thema "Informationsqualität für alle und ihre Kosten", auf der Neubauer seine radikalen Ideen letzte Woche in Bielefeld drei Tage lang von einer Garde internationaler Fachleute feiern und bekräftigen ließ. Aber nicht Eitelkeit haben wir ihm vorzuwerfen, sondern eher, daß er immer noch nicht radikal genug ist. Richtig verstanden, sind Bibliotheken die "Nabe", das starre Traditionszentrum, um das sich die Innovationsdynamik der wissensbasierten Gesellschaft dreht, so die Leiterin der Unternehmensbibliothek beim Computerkonzern Hewlett Packard. Die Nabe wirkt jedoch im verborgenen, ihr Prinzip ist, die Reibungsverluste bei der Fortbewegung so gering wie möglich zu halten, also möglichst selbst nicht spürbar zu sein. Wir dagegen haben ein falsches, sentimentales Bild von Bibliotheken.
Wir stellen sie uns monumental vor. Dies zeigte Liv Saeteren, Direktorin der öffentlichen Bibliothek von Oslo. Sie berichtete über die Schwierigkeiten, die neue Rolle der Bibliothek als "Lernzentrum" angemessen architektonisch umzusetzen. Tatsächlich: Seit die Nationalbibliotheken im neunzehnten Jahrhundert in kolossale Monumentalbauten einzogen, erhielten sie ein Prestige, als wären sie die Ursache und nicht bloß das ephemere Ergebnis erfolgreicher industrieller Nationalökonomien. Das Modell ist immer noch prägend für unser Denken: Entscheidend ist die berauschende Größe - die des Baus oder die des Bestandes. Heute ist das jedoch anders: Je mehr die Bibliotheken unsichtbar werden und verschwinden, desto mehr werden sie zur stillstehenden Mitte fortwährender technischer und kultureller Revolutionen, zur Achse der wertschöpfenden Tätigkeiten, zur tatsächlichen Grundlage und nicht nur symbolischen Repräsentation gesellschaftlicher Macht. Wie ist dieser Bedeutungszuwachs durch Verschwinden, der Erfolg durch Abwesenheit. denkbar? Dazu müssen wir ein wenig ausolen. Beginnen wir mit dem Stichwort "Bibliothekskrise". Damit ist gemeint, daß die Ankaufsetats der wissenschaftlichen Bibliotheken bei weitem nicht so schnell steigen wie die Preise vor allem der Zeitschriften im Bereich von Naturwissenschaft, Technik und Medizin. Die Folge ist, daß erst weniger Fachbücher angeschafft und schließlich auch immer mehr Abonnements gekündigt werden müssen. Die Bibliothekare warnen, daß deshalb Studenten länger studieren müßten, daß Spitzenkräfte abwanderten und der "Wissenschaftsstandort Deutschland" gefährdet sei. - Krise? Welche Krise? - In Wirklichkeit ist das aber ein internationales Problem. Es trifft alle Länder - und am schlimmsten die armen. Am Anfang schrien die Bibliotheken einfach nur nach mehr Geld. Als nicht genug kam, begann man Schuldige zu suchen. Vor einem halben Jahr hatten die kommerziellen Verlage mit ihrer Profitgier den Schwarzen Peter. Heute trifft es auch die Wissenschaftler. Denn Bibliothekare und einzelne Wissenschaftler kamen auf die Idee, den Ertrag der Forschung in autonomen Verlagen selbst zu vermarkten, die kommerziellen Verlage zu boykottieren und so einen preismindernden Wettbewerb zu fördern. Aber die Boykottaufrufe fruchten nicht, denn für die meisten Wissenschaftler ist es allein wichtig, in renommierten Zeitschriften zu publizieren, um ihren Ruhm zu mehren, und ihre Karriere- und Verdienstchancen zu erhöhen. Deshalb sind sie heute die bevorzugten Buhmänner der Bibliothekare, die ihre Anstrengungen hintertrieben sehen durch Eitelkeit und Gleichgültigkeit. Alle sind sich einig, daß Geld der Hebel ist. um die nötigen Verhaltensänderungen zu bewirken. Unterschiedlich sind nur die Meinungen, welche finanziellen Anreize geschaffen werden sollen.
Manche Bibliothekarsvertreter wollen beispielsweise den Wissenschaftlern "verbieten, die Nutzungsrechte wissenschaftlicher Arbeiten von vornherein zu kommerzialisieren". Sie möchten die Aufmerksamkeitsökonomie der wissenschaftlichen Zeitschriften, mit der die Qualität von Wissenschaft gemessen wird, durch ein anderes System ersetzen. Sie möchten die Endnutzer an den Nutzungskosten für Datenbanken beteiligen. Sie möchten den Einkauf von Zeitschriften länderübergreifend koordinieren, in der Hoffnung, die Nachteile der gegenwärtigen Konsortialverträge zu überwinden. Diese Einkaufsgenossenschaften, so ihre Erkenntnis, führten in der jetzigen Gestaltung nur zu einer größeren Anzahl verfügbarer Titel, aber nicht zu sinkenden Preisen. Neubauer dagegen paßt die ganze Richtung nicht. Warum die Konflikte nicht eskalieren lassen, bis uns der ganze korrupte Laden um die Ohren fliegt? Und dann neu aufbauen. Vor allem: keine Konsortien mehr. Jede Bibliothek müsse ihr individuelles Informationsprofil definieren, entsprechende Abonnements bestellen oder einzelne Artikel nach Bedarf kaufen ("pay per view") und ansonsten die Zeitschriften abbestellen. Das heißt: sich auf die thematischen "Kernkompetenzen" der Hochschule konzentrieren und hier das attraktivste, reichste Angebot schaffen. Würden das alle so machen, ergäbe sich auch ein wohltuendes Artensterben unter den fettsubventionierten Zeitschriftensauriern. Wissensbeihilfen Denkt man das weiter, braucht man dann überhaupt noch Bibliotheken? Professoren und Studenten könnten bei den Verlagen direkt ihre Informationen beziehen, im Abonnement oder per Einzelabruf, wie im normalen Leben eines Abonnenten beispielsweise dieser Zeitung. Jeder nach seinen Möglichkeiten und Bedürfnissen. Der zentrale Ankauf und die kostenlose Bereitstellung waren einmal die effizienteste Art, den Zugang zu Qualitätsinformationen zu garantieren. So sind die Bibliotheken unterderhand zu Sozialstationen degeneriert. Das wird im Licht der digitalen Revolution heute sichtbar. Denn die digitale Technik, die alle Information in beliebig kleine Einheiten zerteilt, erlaubt den Zugriff in jeder individuell wünschenswerten Form. Und jede Informationseinheit kann als solche vermarktet werden. Das "Zwischenlagern" in Bibliotheken wird für einen bedeutenden Teil der Literatur künftig überflüssig und entsprechend auch die falschverstandene "Mission" der öffentlichen wie der wissenschaftlichen Bibliotheken, die Informationen kostenfrei an die vielen "Bedürftigen" abzugeben. "Informationsgerechtigkeit" sicherzustellen ist künftig eine Aufgabe der Öffentlichkeit, nicht mehr der Bibliotheken. Wie so etwas technisch denkbar ist, zeigte in Bielefeld der Leiter der Öffentlichen Bibliothek von Eindhoven am Konzept städtischer oder regionaler "WissensBezirke".
Aber auch hier ist die Unterscheidung zwischen der "technischen" gegenüber der "sozialen" Garantie des Zugangs zu. Information noch nicht durchgeführt. Neue Entwicklungen und Anreizsysteme werden so denkbar: Lernhungrige Studenten, die viel lesen, könnten zum Beispiel eine prozentual höhere "Informationsbeihilfe" erhalten. Lehrbücher müssen so schnell wie möglich durch interaktive eBooks ersetzt werden. Für die Papierbestände, die in den historischen Wissenschaften von Bedeutung bleiben, solange sie nicht retro-digitalisiert sind, wünscht man sich Zusammenlegung in spezialisierte, Präsenzbibliotheken in der Nähe von Archiven, Nachlässen, Sondersammlungen, Forschungsschwerpunkten. Auch für die Geisteswissenschaften könnte sich die Digitalisierung so als segensreicher Richtungsimpuls auswirken: Zurück zu den Quellen! Die Dokumente verschwinden, das ist nur eine Frage der Zeit. Die Bibliothekare schlüpfen in neue Rollen als Informationsvermittler, die vor allem das "soziale Leben" der Information betreuen: Sie halten als Administratoren die Information durch ständige Wartung technisch lebendig. Sie testen und installieren Systeme, die den Nutzern helfen, ihre individuellen Informationsportfolios zu optimieren. Sie schulen die Nutzer in der Suche, Nutzung und Entwicklung von Lern- und Lehrmaterialien. Sie liefern Daten zum Informationskonsum, die Rating-Agenturen zur Bewertung der Qualität von Forschung und Lehre nutzen können. Einiges davon deuteten Präsentationen auf der Konferenz bereits an. Die Bibliotheken sind schwach und müssen gestützt werden? Wer schon fällt, den muß man stoßen, so der promovierte Theologe Neubauer, der sinnigerweise an einem Buch über Dschingis Khan schreibt. Sondermittel dürften die Ministerien nur den Starken geben, die sich reformieren und rückhaltlos den Ausbau der digitalen Infrastruktur und der entsprechenden Dienstleistungen vorantreiben. Gilt diese robuste Ethik nur für die Bibliothekspolitik? Die Gesellschaft dürfe nicht zulassen, daß ein Informationsproletariat entsteht. Das aber ist nicht nur eine Frage von arm und reich. Auch müssen die Menschen die Information nicht nur finden können. Sondern sie müssen sie auch bewerten, müssen zwischen guter und schlechter Information unterscheiden können und wollen. Vielleicht wird "Informationsethik" das Hauptfach in der "Lern-Bibliothek" der Zukunft. Denn universelle Verfügbarkeit von Information ist zwar technisch denkbar, aber sie ist nicht per se wünschenswert. Geld ist ein bewährtes Mittel zur Steuerung sozialer Systeme. Warum sollen statt der Bibliothekare nicht die Nutzer selbst entscheiden, in welche Themen sie mit ihrem persönlichen Budget investieren wollen? Der Wettbewerb ist ein härterer Prüfstein als selbst der Koran: Was mich nicht stärkt, ist schädlich, was ich langweilt, ist überflüssig."

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