Document (#35400)

Author
Altmeyer, M.
Thomä, H.
Title
¬Der intersubjektive Freud : Angesichts des boomenden Naturalismus lohnt es, eine weniger bekannte Seite des Gründungsvaters der Psychoanalyse in den Blick zu nehmen
Source
Frankfurter Rundschau. Nr.96 vom 25.4.2006, S.26
Year
2006
Series
Forum Humanwissenschaften
Abstract
Im Umfeld seines 150. Geburtstages am 6. Mai wird Sigmund Freud vor allem als Neurologe gewürdigt, der eine biologistisch fundierte Metapsychologie entworfen hat. Seine zukunftsweisenden Überlegungen zur genuin sozialen Natur des Menschen geraten dabei zu Unrecht ins Hintertreffen.
Content
"Ganz im naturwissenschaftlichen Zeitgeist seiner Epoche verstand sich Sigmund Freud in erster Linie als forschender Neurobiologe. Vom ersten Entwurf einer Psychologie (1895) bis zum postum veröffentlichten Abriss der Psychoanalyse (1940) gab er die Hoffnung nie auf, seine Hypothesen zum Seelenleben würden eines Tages durch Erkenntnisse über die Morphologie und Funktionsweise des zentralen Nervensystems belegt, psychoanalytische Spekulationen durch empirisches Wissen ersetzt werden können. Dieses "szientistische Selbstmissverständnis"; das Jürgen Habermas der Psychoanalyse einst bescheinigte, scheint sich heute als Königsweg zu erweisen, auf dem die Wissenschaft vom Unbewussten neue akademische wie gesellschaftliche Anerkennung erfährt. Jedenfalls fällt bei den derzeitigen Feierlichkeiten zu Freuds 150. Geburtstag auf, dass seine revolutionären Einsichten in die Conditio humana wissenschaftlich vor allem aus Sicht eines boomenden Neo-Naturalismus gewürdigt werden: Die Kognitionswissenschaften haben jene unbewussten seelischen Vorgänge, die von der Psychoanalyse stets behauptet und methodisch untersucht worden sind, experimentell längst nachgewiesen und zum integralen Bestandteil der menschlichen Natur erklärt. Der Jubilar würde sich bestätigt sehen. Neben einer biologisch fundierten Metapsychologie, die auch der klassischen Triebtheorie mit ihren Energiemetaphern zugrunde liegt, findet man in Freuds Werk allerdings noch einen zweiten, nirgends systematisch entwickelten metapsychologischen Ansatz, der die konstitutive Bezogenheit des Menschen auf andere Menschen, seine "soziale Natur", mit einbezieht. "Im Seelenleben des Einzelnen kommt ganz regelmäßig des Andere als Vorbild, als Objekt, als Helfer und als Gegner in Betracht und die Individualpsychologie ist daher von Anfang an auch gleichzeitig Sozialpsychologie", heißt es zum Beispiel in der Einleitung zu Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921). Intersubjektivität gehört demnach zur mentalen Grundausstattung der menschlichen Spezies und muss dem Individuum nicht erst abgerungen werden - die Psyche selbst ist intersubjektiv verfasst. Angesichts der gegenwärtigen Renaissance eines naturalistisch verkürzten Menschenbildes lohnt sich heute ein Blick auf diesen anderen Freud.
Hinzunahme der Mutterpflege Entwicklungspsychologische Hinweise auf eine Anthropologie der intersubjektiven Bezogenheit finden sich bereits in Freuds Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens (1911). Dort stellt er seine Ursprungsannahme vom autistischen Säugling unter einen aufschlussreichen Vorbehalt: Das "von den Reizen der Außenwelt abgeschlossene psychische System" funktioniere natürlich nur, wenn man "die Mutterpflege hinzunimmt". Offenbar gehört die einfühlsame, versorgende, all seine Bedürfnisse befriedigende Mutterfigur (die auch der Vater sein kann oder eine andere Bezugsperson) zur ungeteilten Erfahrungswelt des Säuglings wie selbstverständlich dazu. Der naheliegende Grund dafür ist dessen soziale Frühgeburt, auf die Freud in Hemmung, Symptom und Angst (1926) zu sprechen kommt: "Die Intrauterinexistenz des Menschen erscheint gegen die meisten Tiere relativverkürzt; er wird unfertiger als diese in die Welt geschickt. Dadurch wird der Einfluß der realen Außenwelt verstärkt, die Differenzierung des Ichs vom Es frühzeitig gefördert, die Gefahren der Außenwelt in ihrer Bedeutung erhöht und der Wert des Objekts, das allein gegen diese Gefahren schützen und das verlorene Intrauterinleben ersetzen kann, enorm gesteigert. Dies biologische Moment stellt also die ersten Gefahrensituationen her und schafft das Bedürfnis, geliebt zu werden, das den Menschen nicht mehr verlassen wird" (unsere Hervorheb.). Hier leitet Freud aus der neonatalen Hilflosigkeit des Säuglings nicht nur dessen besondere Realitätsbezogenheit, sondern auch das generelle Bedürfnis des Menschen ab, von anderen geliebt zu werden. Eben dieses Bedürfnis, das die Identitätsbildung lebensgeschichtlich begleitet und performativ im Narzissmus zum Ausdruck kommt, trägt einen intersubektiven Herkunftsstempel. Freud erwähnt den passiven Liebeswunsch bereits in seiner Studie über die Homosexualität von Leonardo da Vinci (1910) und bringt ihn in Zur Einführung des Narzissmus (1914) mit der interaktiven Regulierung des Selbstwertgefühls in Verbindung: "Wer liebt, hat sozusagen ein Stück seines Narzißmus eingebüßt und kann es erst durch das Geliebtwerden ersetzt erhalten." Ausgerechnet das narzisstische Bedürfnis nach dem liebenden Anderen verweist insgeheim auf jenes Objekt, das dem Narzissmus in der traditionellen Metapsychologie gerade verweigert wird.
Das souveräne Ich ist mit der Entdeckung des Unbewussten zwar dezentriert, von Freud zugleich aber rezentriert worden, indem er dessen Anderes - das Es - als Trieb ins Körperinnere zurückholt und von seinem konstitutiven Bezug zur Objektwelt trennt. Dieser Internalismus steht nicht nur Pate bei der endgültigen Formulierung von Freuds Metapsychologie, sondern bestimmt auch die klinische Theorie der Neurose, die nun aus dem intrapsychischen Konflikt zwischen Trieb, Versagung und Schuld hervorgehen soll. Im von der somatischen Medizin geborgten Organismusmodell der Psyche lassen sich freilich jene Strukturen von Ich, Überich und Ichideal nicht ohne Rest unterbringen, die als Sedimente von Interaktionserfahrungen gelten können. Der "Schatten des Objekts", den Freud ursprünglich in den spezifischen Ich-Veränderungen bei der Melancholie gefunden, dann aber im Prozess der IchBildung generell ausgemacht hat, entzieht sich der intrapsychischen Eingemeindung. Ausgerechnet im kategorialen Zentrum seiner ansonsten monadisch angelegten Strukturtheorie mit ihrer Instanzenlehre und der mechanistischen Vorstellung vom psychischen Apparat behauptet Freud eine innere Vermittlung von Selbst und Anderem, eine mentale Verbindung von Innen- und Außenwelt: Das Ich sei "ein Niederschlag der aufgegebenen Objektbesetzungen" und enthalte "die Geschichte dieser Objektwahlen`; schreibt er in Das Ich und das Es (1923). Dieser für die Kodifizierung der psychoanalytischen Persönlichkeitstheorie bahnbrechende Aufsatz erscheint im gleichen Jahr wie Martin Bubers dialogphilosophische Schrift Ich und Du. Für den nüchternen Freud bleibt die Grundidee einer anthropologisch verankerten Intersubjektivität, die Bubers Werk so entscheidend prägt, jedoch ambivalent. So äußert er sich noch in Das Unbehagen in der Kultur (1930) skeptisch über das "ozeanische Gefühl", das sein Freund Romain Rolland gegen die Vorstellung eines abgegrenzten Selbst reklamiert. Dieses "Gefühl der unmittelbaren Verbundenheit, der Zusammengehörigkeit mit dem Ganzen der Außenwelt", so Freud, könne er in sich "nicht entdecken"; es habe für ihn "eher den Charakter einer intellektuellen Einsicht". Nur widerstrebend konzediert Freud Zustände, in denen die scheinbar eindeutige Abgrenzung des Ichs gegenüber der Außenwelt unsicher wird; solche Phänomene rechnet er zu den "dunklen Modifikationen des Seelenlebens", von denen er freimütig bekennt, dass sie ihm selbst nicht ganz geheuer seien. Ungeachtet dieser zugestandenen Idiosynkrasie gelangt Freud aber am Ende dieser Passage zu der Einsicht, dass das Ich-Gefühl des Erwachsenen nicht von Anfang an abgegrenzt gewesen sein könne: "Unser heutiges Ich-Gefühl ist also nur ein eingeschrumpfter Rest eines weit umfassenderen, ja eines allumfassenden Gefühls, welches einer inneren Verbundenheit des Ichs mit seiner Umwelt entsprach. Wenn wir annehmen dürfen, dass dieses Ich-Gefühl sich im Seelenleben vieler Menschen - in größerem oder geringeren Ausmaße - erhalten hat, so würde es sich dem enger und schärfer umgrenzten Ich-Gefühl der Reifezeit wie eine Art Gegenstück an die Seite stellen".
Das relationale Unbewusste Diese wenigen Fundstellen, die man um weitere ergänzen könnte, reichen zwar nicht aus, um den Gründungsvater der Psychoanalyse zum Kronzeugen ihrer intersubjektiven Wende zu erklären (die in den Nachbarwissenschaften mit Bubers Anthropologie, Wittgensteins Sprachphilosophie oder G. H. Meads symbolischem Interaktionismus zu Freuds Zeiten bereits eingesetzt hatte); denn ungeachtet seiner anhaltenden Ambivalenz ist Freud letztlich bei der cartesianischen Trennung von Subjekt und Objekt geblieben, die ein vermittelndes Drittes und damit ein inter, ein Zwischen, nicht kennt. Es ist vielmehr umgekehrt: Erst ihr verspätet vollzogener "relational turn" versetzt die Psychoanalyse in die Lage, jene von Freud schon registrierte eigentümliche Weltbezogenheit neu zu entdecken, die in den mentalen Tiefen des Subjekts auf die virtuelle Gegenwart des Anderen verweist. Aus dieser Perspektive erscheint auch das Unbewusste, das in der klassisch-psychoanalytischen Topographie eine Art innere Unterwelt darstellt, als relational. Es drängt geradezu auf zwischenmenschliche Beziehungen und situiert den Einzelnen psychisch in seiner sozialen Umgebung - ohne dass es dabei immer harmonisch zuginge: Auch Hass, Neid oder Eifersucht verbinden. Hier trifft sich jenseits des boomenden Naturalismus modernes psychoanalytisches Denken mit dem einer aufgeklärten Neurobiologie. Diese favorisiert nämlich ihrerseits - nachdem sie Jahrhunderte lang vergeblich nach der Steuereinheit an der Spitze der neuronalen Hierarchie (dem Descartes'schen Homunkulus im Kopf) gesucht hat und dabei auf eine nicht-hierarchische Gehirnarchitektur gestoßen ist - die Hypothese einer intersubjektiven bzw. sozialen Konstruktion des Selbst. Hier bahnt sich eine fruchtbare interdisziplinäre Zusammenarbeit an, zu der die Psychoanalyse einiges beizutragen hat - eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe, die immer noch vom "intersubjektiven Freud" profitieren kann.
Field
Psychologie

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